„Ja heißt Ja“ und „Nein heißt Nein“- und wie geht es weiter?

Konsens-Kultur gemeinsam stärken

Endlich! Endlich gibt es in Deutschland durch den Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht eine Stärkung der Konsens-Kultur. „Nein heißt Nein!“ Das, worauf Frauen*- und Menschenrechtsorganisationen jahrzehntelang unablässig hingewirkt haben, ist in Deutschland seit dem 10.11 2016 in Kraft getreten. Auch Wendo, eine feministische Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungsart, um dessen Ansatz und Wirken es in diesem Artikel auch gehen wird, ist seit den 70er Jahren Teil jener Kraft, die Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* als strukturelles patriarchales Phänomen benennt. Die bisherige Auslegung des Gesetzes 177 Strafgesetzbuch (StGB) hatte mit dem Fokus auf den Widerstand der bedrängten Person (hat sie sich gewehrt?) dominantes Vorgehen belohnt und Machtstrukturen festgeschrieben. Nun ist der Freifahrschein für sexualisierte Grenzverletzungen auf gesetzlicher Ebene passé. Heute kann die Absicht des Machtmissbrauchs und alle nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen bestraft werden. Auch die Ungleichbehandlung im Strafrahmen bei Betroffenen mit Behinderung wurde abgeschafft, bisher war ein sexueller Übergriff gegen eine „widerstandsunfähige“ Person mit geringerer Strafe belegt. Jetzt können Übergriffe härter bestraft werden, wenn bei der Tat eine Beeinträchtigung ausgenutzt wird. Ganz neu eingeführt wurde der Straftatbestand der sexuellen Belästigung. Dadurch sind künftig auch Übergriffe strafbar, die bislang als nicht erheblich eingestuft wurden.

Auch in Schweden sorgt die dortige Verschärfung des Sexualstrafrechts (seit 1. Juli 2018) mit dem Grundsatz „Nur ein Ja heißt Ja“ dafür, gewollten von ungewolltem Sex noch klarer abgrenzen können. Vor jeder sexuellen Handlung gilt es also sicherzustellen, dass alle Beteiligten jeden Schritt innerhalb dessen wollen. Im Unterschied zur bisherigen Gesetzgebung ist jetzt jede sexuelle Handlung strafbar, die nicht im aktiven gegenseitigen Einverständnis passiert ist. Wie ungeübt viele darin sind, herauszufinden, ob ein Konsens besteht, zeigt sich darin, wenn in der öffentlichen Diskussion diese Absprachen als „super kompliziert, voll unsexy“ gebrandmarkt werden. – Wie kommt es, dass mensch davon ausgeht, Zustimmung nicht sicherstellen zu müssen? Wie kommt es, dass es also sexy ist, nicht zu wissen, ob die andere Person zustimmt? Das Gesetz in Schweden macht erotische Begegnungen nicht komplizierter, sondern stellt nur eine bis dato seltsame Einstellung zu Sex richtig. Selbst in Beziehungen gibt es kein Abo auf Sex, sondern es ist jedes Mal eine frische Begegnung, in der es keine Ansprüche zu geben hat.

Diese Verbesserungen im Sexualstrafrecht gilt es nun auszuschöpfen. Die #MeToo-Debatte ermutigt dazu, indem sie seit Mitte Oktober 2017 in der Öffentlichkeit für intensive Auseinandersetzungen über das Ausmaß und das Spektrum sexueller Belästigungen und sexueller Übergriffe gesorgt hat. Sexuelle Selbstbestimmung erfährt als Rechtsgut einen höheren Stellenwert. Gleichzeitig ist weiterhin ein Augenmerk darauf zu legen, welche Perspektiven, auch innerhalb von #MeToo, marginalisiert werden. Tarana Burke, eine afroamerikanische Aktivistin, hatte den Hashtag bereits 2006 ins Leben gerufen, um Empathie unter afroamerikanischen Frauen zu fördern, die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht hatten – offensichtlich war diese Lebensrealität für die Gesellschaft, die Medien, die Politik nicht relevant genug, um eine öffentliche Wirksamkeit entstehen zu lassen.

Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Antworten

Sex ist weit mehr als eine individuelle Erfahrung. Für wen ist das Stereotyp „Sex ist gut ohne Reden“ von Vorteil? Für diejenigen, die die „Triebhaftigkeit der Männer*“ und die „Passivität“ der Frauen* festschreiben wollen? Für die dominante Person, die gewöhnt ist, ihre Vorstellungen durchzusetzen? Hier kommen gesellschaftliche Machtfragen zum Tragen. Um sich vertrauensvoll mit romantischen und erotischen Wünschen bewegen zu können, ist eine Sensibilisierung für unterschiedliche Machtstrukturen, auch für Mehrfachdiskriminierung und Formen intersektionaler Gewalt wichtig. Wir alle sind auf diesen Machtachsen positioniert: Wie wirkt es sich z.B. auf eine sexuelle Beziehung aus, wenn eine Person bezüglich Rassismus privilegiert ist und gleichzeitig diskriminiert ist durch den sozioökonomischen Status. Und bei der anderen Person ist es umgekehrt. Oder anders. Oder gleich?

Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn sexualisierte Gewaltdelikte als „Sex-Skandale“ oder Femizide (Frauen*morde) als „Beziehungs-” / „Eifersuchtstaten” oder „Familiendramen“ deklariert werden? Zudem werden weibliche* Betroffene häufig degradiert oder sogar beschuldigt. Durch „Victim-Blaming” wird eine „Täter-Opfer-Umkehr“ betrieben, die die Betroffenen dafür verantwortlich macht, dass ihnen Gewalt zugefügt wurde. Gewalt an Frauen* und Kindern ist kein individuelles Problem der Betroffenen, sondern ein gesamtgesellschaftliches, mit dem wir uns alle auseinandersetzen müssen. Dieser Rape Cultur / der Vergewaltigungskultur können wir nur gemeinsam entgegentreten, in dem wir die Verantwortung unmissverständlich an die Täter zurückgeben.

Deshalb kann auch die Antwort auf die viel geäußerten Ausrufe der #MeToo-Gegenseite „Uns ist das noch nie passiert“ oder „Jetzt dürfen wir wohl nicht mehr flirten“ nur folgende sein: Es geht darum, die Genussfähigkeit im eigenen Begehren weiterhin zu stärken UND die Solidarisierung mit den Betroffenen im Bewusstsein zu haben. Polarisierung schwächt. Es geht darum, die strukturelle Perspektive auf patriarchale Machtphänomene zu erhalten, um die Alltäglichkeit von Gewalterfahrungen problematisieren zu können. Deren Verharmlosung stärkt die Rape Cultur.

Ein „Ja“ und ein „Nein“ brauchen Selbsterlaubnis

Für die Zivilgesellschaft eröffnet sich jetzt noch mal anders die Möglichkeit, eine Kultur zu stärken, in der erotische Begegnungen durch eine Kommunikation auf Augenhöhe entstehen. Konsens-Kultur statt Rape Cultur. Betroffene müssen sich nicht mehr wehren, sondern dürfen ihre Grenzen markieren und sich damit ernst nehmen. Wenn zukünftig nicht mehr so getan werden kann, als wären die Gefühle derer, deren Grenzen (bewusst) verletzt werden, egal, dann rückt das flüssige Kommunizieren der eigenen Vorlieben, Gestimmtheiten, der eignen Grenzen in den Vordergrund. Damit wäre viel erreicht. Und dazu braucht es eine gute Verbindung zum eigenen Erleben. Ebenso wie Selbsterlaubnis, die eigenen Bedürfnisse mitzuteilen. Gerade für Frauen* kann das sehr schwierig sein.

Eine klassische, „weibliche“ Sozialisation ebenso wie die Erfahrung, von dem Zwei-Geschlechter-Konstrukt abzuweichen, oder von anderen gesellschaftlichen Normen, kann zu Überanpassung und einer zu starken Orientierung an die Wünsche anderer führen. Wenn eine selbstfürsorgliche Abgrenzung fehlt, und die Bedürfnisse anderer reflexartig befriedigt werden, steigt die Gefahr von (sexualisierter) Ausbeutung. Im Ängstlichkeits- und Alarmmodus wirkt „Nein-Sagen“ vielleicht wie eine Fremdsprache: Steht mir das zu? Bin ich dann nicht egoistisch?
Das, was die „Täter-Opfer-Umkehr“ bezweckt – Betroffene zu beschämen und zum Schweigen zu bringen – wirkt also in das Individuum hinein und kann zu einer Aggressionsumkehr führen. „Ich finde das Verhalten der grenzverletzenden Person blöd/ich mag nicht so behandelt werden““ verkehrt sich in „es ist blöd von mir, dass ich mich hier anstelle/die andere Person findet mich bestimmt kompliziert/ich bin Schuld, dass es so eine Schwere bekommt.“). Die Aggression einer sexualisierten Grenzverletzung wird von vielen Betroffenen gegen sich selbst gerichtet, etwa in Form von solchen Selbstverurteilungen, Schuldgefühlen, destruktiven Körperbildern und anderen Selbstverletzungen.

Der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, als auch sich die Selbsterlaubnis zu geben, etwas als sexuelle Grenzverletzung zu benennen, bleiben als schwierige Schritte also weiterhin bestehen – für viele Betroffene ist es sehr schwer, innerlich freundlich mit sich selbst umzugehen oder zumindest anerkennend. Gerade für Menschen, die bereits Gewalterfahrungen haben!

An dieser Stelle also die Frage: Wie einfach ist es also, die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen? Was braucht es, um sie in Besitz zu nehmen? Die anzustrebende Selbstbemächtigung hilft, eigene Erfahrungen unterscheidend wahrzunehmen und dafür einzustehen. Innere Selbstgewissheit kann Stück für Stück über erlebte und selbst gesetzte Grenzen hinausführen.

Wendo als Möglichkeit zur Selbstbemächtigung

Wendo steht als feministische Selbstbehauptung und Selbstverteidigung an der Schnittstelle zwischen struktureller Analyse und persönlicher Selbsterfahrung.

Der Name Wendo setzt sich aus Wen, einer Abkürzung für das englische women (Frauen*), und Do, japanisch für Weg, zusammen und bedeutet „Weg der Frauen*“. Es geht um Auseinandersetzung mit patriarchalen Machtverhältnissen und erlernten Verhaltensmustern und wie Geschlechtsstereotype immer wieder hergestellt werden. Wendo setzt an den Erfahrungen und Wünschen der Teilnehmenden an. Neben einfachen, wirkungsvollen Techniken aus verschiedenen Kampfsportarten ist Selbstbehauptung von zentraler Bedeutung, um sich im Alltag selbstsicherer gegen Belästigungen und Bedrohungen wehren zu können. Im Kurs kann jede* ihre eigenen Strategien entwickeln, sich gegen die unterschiedlichen Arten von Gewalt zu wehren.

Bei der Sensibilisierung für die feinen Grenzverletzungen steht ein würdevoller Umgang mit den eigenen Grenzen im Mittelpunkt – auch und gerade gegenüber nahestehenden Personen.

Seit den 70 Jahren haben Wendo-Trainerinnen* als Teil der Frauen*bewegung und der Frauen*gesundheitsbewegung bereits nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Gewalterfahrungen von Frauen* und Mädchen* Alltagserfahrungen sind, die meistens im sozialen Nahraum stattfinden. Deshalb verwehren sich Wendo-Trainerinnen* gegen eine Instrumentalisierung, wie es z.B. mit den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 geschah. In deren medialen und gesellschaftlichen Aufbereitung wurde der Eindruck erweckt, sexuelle Übergriffe in Deutschland seien hauptsächlich ein Problem nicht-weißer, nicht-deutscher Täter und weißer Betroffener mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Im Wendo-Training stehen die eigene Wahrnehmung und die eigenen Grenzen im Fokus. Durch den Grundsatz der freiwilligen Teilnahme bei jeder Übung (Jede* achtet auf sich) wird ermöglicht, eine emotionale Öffnung gegenüber dem Thema Gewalt behutsam zu gestalten.

Immer wieder fragen Teilnehmende „Was sind überhaupt meine Grenzen?“ Abgrenzung zu erlernen, hilft, Raum zu schaffen für eigene Perspektiven und das eigene Erleben zum Maßstab zu machen.

Abgrenzung zu lernen, heißt, selbstverantwortlich mit den eigenen Aggressionen umzugehen, sie dort auszudrücken, wo sie hingehört, nämlich gegen eine_n Aggressor_in. Nein zu sagen muss ganz und gar nicht eine Unfreundlichkeit gegenüber einer anderen Person sein, vielmehr ist es eine Mitteilung. Abgrenzung drückt weiterhin Selbst-Mitgefühl aus. Indem ich nein zu anderen sagen, sage ich ja zu mir. Statt die Distanz zu anderen ausdrücken, kann ich auch sagen: ich möchte mir selbst nahe sein, ich möchte gut für mich sorgen.

Im Wendo wird an den Stärken jeder einzelnen Person angesetzt. Fern ab von leistungsbetonten Abläufen gilt es herauszufinden, welche Strategie jeweils als stimmig erlebt wird, bzw. was im Rahmen der Möglichkeiten jeder Teilnehmerin* liegt.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten wird eine Tendenz zur individuellen Problemlösung sichtbar: Früher haben sich mehr Frauen* z.B. innerhalb von Wendo-Gruppen gemeinsam gegen Sexismus gestärkt, heute wird dieses Thema eher in der Einzel-Therapie bearbeitet. Das ist sicherlich in vielen Fällen gut und notwendig, aber es reicht nicht. Es führt auch zu der Frage, ob sich auch neoliberale Selbstoptimierung zum Ausdruck kommt? Die Suche nach einem guten Leben, nach Gestaltungsfreiräumen braucht weiterhin strukturelle Veränderungen.

Die Scham ist vorbei. So hieß es schon einmal voller Kraft Ende der 70er. Entschämung! Jetzt! Und dazu braucht es Solidarisierung. Jetzt!

Rike Schulz, im September 2018, in: Clio 87, die Zeitschrift für Frauengesundheit, Hrsg: FFGZ Feministisches FrauenGesundheitsZentrum Berlin